Frankfurt Hessen: Wie eiskalt ist dies Händchen

2023-01-13 10:54:56 By : Ms. Cassiel Zhou

In Hessen sollen Hitzerekorde fallen. Der kälteste Punkt liegt bei minus 269 Grad Celsius in einem im Industriepark Höchst.

So mancher träumt vielleicht davon, in dieser Hitze mit den Forschern zu tauschen, die bei Sanofi im Industriepark Höchst mit superkalten flüssigen Gasen hantieren. Doch auch Sanofi-Analytiker Dr. Michael Kurz oder seine Kollegin Dr. Bettina Elshorst, Laborleiterin in der Strukturbiologie und Biophysik, können sich keine wirkliche Hoffnung auf Abkühlung machen: "Wenn wir die Kälte abbekämen, wäre das wie eine Verbrennung", sagt Elshorst. Deshalb gilt beim Hantieren mit flüssigen Gasen im Labor: Handschuhe und Schutzbrille sind Pflicht.

Minus 269 Grad Celsius - das ist die Temperatur von flüssigem Helium. Es ist die einzige Substanz, die selbst am absoluten Nullpunkt von 0 Kelvin, das sind unglaubliche minus 273,15 Grad Celsius, unter Normaldruck nicht fest wird. Immerhin noch minus 170 Grad ist flüssiger Stickstoff kalt. Beides wird bei Sanofi gebraucht, in der Forschung biotechnisch hergestellter Arzneimittel. Die Biopharmazeutika nehmen einen immer größeren Stellenwert ein: Antikörper und andere Mittel werden durch die natürliche biochemische Stoffwechselleistung von Bakterien oder Zellen gewonnen. Bakterienstämme werden in flüssigem Stickstoff gelagert. Minus 170 Grad Celsius herrschen in diesen Lagerbehältern. Reiner flüssiger Stickstoff hat eine Temperatur von minus 196 Grad Celsius. Wird er wärmer, verdampft er. Oder salopp ausgedrückt: Er kocht bei minus 196 Grad.

In der Integrierten Wirkstoffforschung von Sanofi wird mit Hilfe von Röntgenstrahlen untersucht, wie große Moleküle - etwa Proteine - räumlich aussehen und wie sie in Wechselwirkung mit anderen Molekülen treten. Damit die Proteinmoleküle keinen Schaden nehmen, wenn die energiereichen Röntgenstrahlen auf sie treffen, werden sie mit flüssigem Stickstoff auf minus 170 Grad Celsius gekühlt. "Es gibt wohl kaum einen Chemiestudenten, der nicht seine Spielchen mit flüssigem Stickstoff gemacht hat", sagt Sanofi-Sprecherin Dr. Birgitt Sickenberger. Schülerpraktikanten wird es schon auch mal gerne vorgeführt: Eine Blume wird mit flüssigem Stickstoff gefrostet und dann mit dem Hammer in tausend Teile zerschlagen.

Noch viel kälter ist allerdings flüssiges Helium. Es wird in einem weiteren Verfahren genutzt, um die Struktur von Molekülen zu erforschen: in der Kernspinresonanzspektroskopie, kurz NMR (nuclear magnet resonance). Dabei beobachten bei Sanofi die Forscher um Dr. Michael Kurz, wie sich Atome in einem starken Magnetfeld verhalten, wenn sie mit Radiowellen angeregt werden. Um die nötigen starken Magnetfelder aufzubauen, werden Elektromagnete verwendet, in denen sehr starke elektrische Ströme fließen. Weil nahe dem absoluten Nullpunkt - er liegt bei minus 273,15 Grad Celsius - der elektrische Widerstand vieler Metalle gegen Null sinkt, werden die Spulen möglichst nah an diese Temperatur heruntergekühlt - mit flüssigem Helium von minus 269 Grad.

Wenn flüssiges Helium ins NMR-Spektrometer nachzufüllen ist, sind die Forscher aber auch bei der derzeitigen Sommerhitze nicht zu beneiden: Ohne Handschuhe geht nichts, denn der Umgang mit dem Stoff ist wegen der Verbrennungsgefahr heikel. "Es ist nicht so, dass die Leute sich bei uns um diesen Job schlagen", sagt Dr. Bettina Elshorst. Befüllt wird mit einem Metallstab, der "Transfer Line". Dabei ist Reaktion gefragt: "Das Helium ist als Flüssigkeit nicht zu sehen; es strömt aus der Leitung nicht als Tropfen, sondern wie eine Flamme." Sieht der Befüller die Flamme, muss er den Metallstab sofort in den Reaktionsbehälter einführen. Trotzdem ist ein Kältenebel unvermeidbar: Entweichendes Helium kühlt die Luft so stark ab, dass die Luftfeuchtigkeit kondensiert.

Dass flüssige Gase kalt sind, wissen Camper und Gas-Grillmeister: Den Füllstand einer Propangaskartusche kann man etwa dadurch ermitteln, dass man heißes Wasser darüber schüttet und dann mit dem Finger von oben nach unten über das Metall fährt: Wo die Kartusche heiß geworden ist, ist unter der Hülle Luft; wo sie kalt wird, beginnt die Gasfüllung. Manchmal kondensiert das Wasser sogar.

Einen moderat kühlen Arbeitsplatz im Industriepark Höchst hat Katja Neugebauer: In ihren Händen liegt es, dass bei Sanofi die Bakterien, welche die Vorstufe von Insulin produzieren, aus ihrem Kälteschlaf bei minus 170 Grad erwachen und beginnen, sich zu teilen. Die Zellbank-Ampullen lagern in dick isolierten Behältern, die mit flüssigem Stickstoff gekühlt werden. Das Auftauen ist Handarbeit: Die Biologielaborantin nimmt die Ampullen einzeln aus dem Behälter und hält sie in der Hand, bis das Eis an der Gefäßwand schmilzt. Katja Neugebauer ist immer wieder fasziniert, dass Bakterien eingefroren und wieder aufgetaut werden können, ohne Schaden zu nehmen. Aber im Prinzip ist das nicht anders als beim Hefeteig in der Küche.

Im Industriepark Höchst wird viel mit Kälte gearbeitet. Die Betreibergesellschaft Infraserv Höchst liefert aus zentralen Erzeugungsanlagen Ammoniak-Kälte, Kühlsole sowie Kaltwässer. Ammoniak wird bereits seit mehr als 125 Jahren als Kältemittel verwendet und meist schlicht als NH3 oder auch R717 (Refrigerant 717) bezeichnet. Ammoniak gilt als eines der wenigen Kältemittel, die sich klimaneutral verhalten, weil es weder die Ozonschicht schädigt noch zum Treibhauseffekt beiträgt. Typische Einsatzgebiete sind die Gewerbe- und Industriekälte, etwa in der Chemieindustrie, in Brauereien und Eissporthallen. Vorsicht ist aber geboten: Ammoniak ist ein Gefahrenstoff, gehört in die Wassergefährdungsklasse 2 und kann bei Freisetzung für die unmittelbare Umgebung eine Gefahr darstellen.

Flüssigstickstoff, wie er bei Sanofi genutzt wird, kann industriell in großen Mengen zusammen mit Flüssigsauerstoff durch die "fraktionierte Destillation" von flüssiger Luft hergestellt werden. Für große Kühlanlagen kann Stickstoff kaum genutzt werden, weil er bei Kontakt mit wärmeren Objekten sofort siedet - das gilt für alles, was eine wesentlich höhere Temperatur hat als der Siedepunkt dieser Flüssigkeit, der bei -196 °C liegt. Flüssigstickstoff wird unter anderem zur Aufbewahrung von Blut, Eizellen oder Sperma genutzt, als Kühlmittel für Prozessoren und andere elektronische Bauteile, zum künstlichen Gefrieren des Grundwassers im Tiefbau oder bei der Speiseeis-Herstellung.